Schalmeienklänge im Fackelschein
Kommentar 2
Die Tatsache, daß ich mit dieser
Arbeit das dickste Dissertations-Manuskripts meiner
Hochschullehrer-Laufbahn zwischen den Händen halte (4
Bände, insgesamt 813 Seiten) spricht für sich allein
natürlich noch nicht für die Qualität des Opus.
Sie spricht allerdings sehr für die Arbeitsweise und das
wissenschaftliche Profil des Verfassers. Herr Hinze aus Hamburg
hatte vor vielen Jahren begonnen, sich für die Schalmei zu
interessieren - nicht das sanfte klarinettenähnliche
Instrument unserer Weihnachtslieder, sondern die quäkende
„Martinstrompete“, wie sie in ähnlicher Form
als „Martinshorn“ der Polizei bis heute bekannte
ist. (Warum diese derbe Tröte, die in den von Herrn Hinze
dokumentierten Verkaufprospekten der Herstellerfirma immer als
„Hupe“ oder „Horn“ firmiert, sich
sprachlich zur lieblichen „Schalmei“ gewandelt hat,
habe ich nicht gefunden - handelt es sich vielleicht um einen
Spott-Euphemismus?). Das Bemühen, alles über dieses
Instrument in Erfahrung zu bringen, seine Technik, seine
Herstellung und vor allem seinen Gebrauch: dies ist das eine
Erkenntnisinteresse, von dem Herrn Hinzes Arbeit lebt - und
schon daraus hätte der Verfasser ein solides Buch
erarbeiten können. Es wäre eine musikgeschichtliche
Arbeit zu einem ziemlich ausgefallenen Instrument geworden.
Nun kommt etwas Anderes hinzu. Die Schalmei
(das macht diese Arbeit deutlich) war so etwas wie das
Leibinstrument der militärischen Formationen der
Arbeiterbewegung, also vor allem des
„Rotfrontkämpferbundes“. Und dies ist das
andere Erkenntnisinteresse des Verfassers: Er wollte,
vermittelt über die Schalmei und die
„Arbeiterkampfmusik“, das Funktionieren der linken
Kampfverbände herausarbeiten, und zwar im wesentlichen
nicht aus der historischen Vogelperspektive der Programmatiken,
sondern aus dem Binnenleben der (Musik-) Verbände selber.
Aus der Verschränkung dieser beiden
„Stränge“ des Forschens ist die vorliegende
Arbeit entstanden und nach einem fast zehnjährigen Suchen,
Sammeln, Recherchieren, Analysieren und Dokumentieren nun an
ein Ende gelangt, das große Bewunderung verdient. Auch
wenn ich als Leser den Eindruck habe, daß vor allem der
„2. Strang“, also die Darstellung der
Arbeiterbewegung und ihrer Kampfverbände sich oft
verselbständigt hat, daß Daten und Fakten dazu
mitgeteilt werden, die zwar historisch äußerst
aufschlußreich, mit dem musikalischen Thema der Arbeit
aber nicht mehr „vermittelt“ sind. Ist das eine
Kritik? - Nein und Ja. Der Verfasser ist bei seinen peniblen
Recherchen auf unglaublich interessante und brisante Details
zur Politik der linken Kampfverbände gestoßen, die,
wenn er die Arbeit vor 30 Jahren herausgebracht hätte, ihr
höchste politische Aufmerksamkeit hätte zuteil werden
lassen und zu einer heftigen Polarisierung der Meinungen
geführt hätte. Denn was Herr Hinze zu diesem Punkt
herausarbeitet, ist die härteste Kritik am
Selbstverständnis und an der Politik der linken
Partei-Militanten der Weimarer Republik. Herr Hinze stellt dar,
wie die Organisationen in ihrer Struktur schon in den Zwanziger
Jahren das (nazistische) „Führer“-Prinzip
übernahmen und linke gegen rechte Disziplin beschworen,
wie sie in ihrem musikalischen Repertoire die Tradition des
wilhelminischen Militarismus fortsetzten und im Grunde, um es
zugespritzt zu sagen, sich gegenüber ihrem
nationalsozialistischen Gegner gleichsam nur spiegelverkehrt
verhielten. Herr Hinze belegt das sehr genau aus der
sorgfältigen kritischen Lektüre auch abgelegener
Schriften und Schriftchen, detailversessen und einer Wahrheit
auf der Spur, die wir dem Verfasser abnehmen ohne daß wir
uns dadurch politisch desillusioniert fühlten. (Wie anders
war die politische Situation, als in den 70er Jahren Autoren
wie Erhard Lucas, Klaus Theweleit, Peter Brückner oder
Heinz Brüggemann den Autoritären Charakter der
Arbeiterbewegung der Weimarer Republik darstellten, die
Nähe linker zu rechter Gewalt analysierten). Die Lust an
der offensiven „Entmythologisierung“ linker Mythen
tritt dabei als Haltung des Autors deutlich hervor (die Arbeit
setzt schon recht unvermittelt mit der Formulierung
„falscher“ Auffassungen als
„Ausgangsthesen“ ein). Unter diesem Gesichtspunkt
ist die Arbeit von Herrn Hinze in ihrem
„historischen“ Strang ein wichtiger Beitrag zur
(Kultur-) Geschichte der Arbeiterbewegung. Was em Leser
allerdings das Lektürevergnügen ein wenig
tzrübt, ist die - wie oben angedeutet - nicht immer
gelungene Verschränkung mit dem musikhistorischen Ansatz,
ist die voluminöse, sperrige Anlage eines Riesen-Opus,
dessen Gliederung („5.4.1.1.1...“) bereits wenig
leserfreundliche ist.
Doch weiter mit der Laudatio... Ich habe
bereits auf den Spürsinn und die Recherchelust des
Verfassers hingewiesen. Die Arbeit an Primärquellen in den
Archiven wurde flankiert durch die Analyse
zeitgenössischen publizierten Materials (Zeitungen,
Vereinszeitschriften etc.) und durch das Gespräch mit
Zeitzeugen. Großen Wert hat der Autor darauf gelegt, die
falschen Legenden im Hinblick auf die Schalmei und die
Bedeutung der Arbeitermusik zu konfrontieren mit den
Ereignissen „vor Ort“ (also bei den einzelnen
Kapellen und Ortsverbänden). Auf diese Weise entsteht ein
sehr lebendiges und anschauliches Bild auch von
Alltäglichkeiten (den Auftritten der Kapellen auf lokaler
Ebene zum Beispiel).
Sehr große Anerkennung verdient Herrn
Hinzes Kapitel über das Liedgut der Arbeiterbewegung im
allgemeinen und der RFB-Kapellen im besonderen (S. 600ff.) -
und im Grunde ist das noch einmal ein ganz eigenes
„Buch“ innerhalb dieses Buches. Der Verfasser
untersucht dort nicht nur das Lied- Repertoire und seine
Entwicklung auf der Basis der Liederbücher, der
Programmzettel, der Berichte etc., sondern legt auch eigene
historisch-philologische Analysen zur Entstehung Geschichte
einzelner Liedtexte vor, die z.T. den Charakter einzelner
ausführlicher Essays annehmen. Einhundert Seiten starker
Registerteil beschließt die ungewöhnliche Arbeit.
Herrn Hinzes Arbeit stellt ein überaus
sorgfältig aus Primärquellen recherchiertes Werk dar,
mit dem der Verfasser wissenschaftliches Neuland im Bereich der
Musik-, der Kultur- und der proletarischen Geschichte betritt.
Prof. Dr. Dieter Richter
Insitut für Popularkultur und
Kinderkultur
Universität Bremen
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