„Lobhudeleien“
oder
„zur Sau gemacht“

Es schrieb zu: Werner Hinze, „Hier hat man täglich seine Noth“ - Auswandererlieder


admarginem – Randbemerkungen zur Musikalischen Volkskunde. Mitteilungen des Instituts für Musikalische Volkskunde der Universität zu Köln, 81 – 2009 (erschienen im Juni 2010), S. 20-23

Die vorliegende Publikation setzt die Reihe der von Werner Hinze veröffentlichten, in ad marginem bereits rezensierten Liederbüchern mit Lexikonteil fort: „Lieder der Straße“ (2002; vgl. ad marginem 76/2004), „Seemanns Braut is’ die See. Lieder, Gedichte und vertellen zwischen Seefahrt und Kiez“ (2004; vgl. ad marginem 77/2005) und „Notensalat und Geilwurz. Lieder der Küche und küchenlieder“ (vgl. ad marginem 78/79/2006/07).

Erzwungene Wanderungsbewegungen in Europa gab es verstärkt seit dem 15. Jahrhundert, als die Sephardim und Mauren aus Spanien vertrieben wurden. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts verließen viele Menschen ihre Heimat aus konfessionellen Gründen, denn es galt in und außerhalb von Deutschland das Prinzip cuius regio eius religio: Wer nicht zur Konfession seines Landesherrn übertreten wollte, musste das Land verlassen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts emigrierten viele Deutsche freiwillig nach Polen, Rumänien, Ungarn und Russland, nachdem die dortige Obrigkeit zur Einwanderung aufgerufen hatte. So lockte etwa die russische Zarin Katharina ((. Siedlungswillige, indem sie ihnen zahlreiche Privilegien einräumte. Als diese später zum Teil aufgehoben wurden, erfolgte eine Auswanderungswelle nach Übersee, insbesondere nach Brasilien

Seit 1816, dem Ende der Napoleonischen Kriege, bis 1932 gingen mehr als 60 Millionen Europäer nach Übersee, darunter etwa sieben Millionen Deutsche. Weit über die Hälfte von ihnen nach Nordamerika auf. Gründe für die damaligen Massenauswanderungen waren Hungersnöte, wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit und politische Unterdrückung. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 verließen Zehntausende von Bauern, Handwerkern, Arbeitern und Intellektuellen Deutschland. In diesem politischen Zusammenhang entstanden u. a. die „Texanischen Lieder“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, die teilweise in die vorliegende Sammlung aufgenommen wurden. Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874) war 1842 aus politischen Gründen seines Amtes enthoben und des Landes verwiesen worden und hatte zeitweilig Emigrationspläne, die er aber nicht realisierte.

Im Zusammenhang mit der Auswanderung entstanden zahlreiche Lieder, denen Hinze für die vorliegende Sammlung ca. fünfzig aus dem Zeitraum vom 18. bis ins 20. Jahrhundert auswählte. Ein großer Teil davon findet sich im Deutschen Volksliedarchiv Freiburg, dessen Mitarbeiterin Waltraud Linder-Beroud u. a. zahlreiche Liedkommentare verfasste. Zu vielen Liedtexten fehlen die Melodien; man kann jedoch davon ausgehen, dass die meisten von ihnen zu damals populären Weisen gesungen wurden. Da Hinze daran gelegen ist, die – zum Teil in Vergessenheit geratenen – Lieder der gegenwärtigen Praxis zugänglich zu machen, wurden sämtliche Texte mit traditionellen Melodien versehen, manchmal in bearbeiteter und ergänzter Version. Einige wenige Melodien sind Neuschöpfungen im traditionellen Stil (z. B. „O hört die traurige Geschichte“, S. 28f.) Damit die Lieder nicht nur gelesen, sondern auch gespielt und gesungen werden, hat der Herausgeber den Melodien Akkordsymbole hinzugefügt.

Viele Liedtexte nennen unmissverständlich die Gründe für den Entschluss auszuwandern: „In Deutschland herrscht so große Not, hier hat man kaum ein Stückchen Brot“ (S. 38). Der Misere in der „alten Welt“ setzen sie ein besseres Leben in der „neuen Welt“ entgegen. Aus der Ferne erschienen vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, Hauptziel der Auswandererströme, als ein Schlaraffenland („In Amerika, da ist es fein, da fließt der Wein zum Fenster rein“, S. 38). Mit den fernen Zielen verbanden sich oftmals utopische Vorstellungen, so dass Enttäuschungen programmiert waren. Der optimistische Zug vieler Lieder hing jedoch auch mit ihrer Funktion zusammen, sich Mut zu machen und Angst und Abschiedsschmerz zeitweilig zu übertönen. Denn Auswanderung bedeutete in früheren Zeiten oft die endgültige Trennung von den Angehörigen und Freunden in der alten Heimat und war somit durchaus vergleichbar mit deren Tod. In manchen Fällen stammen euphorische Schilderungen aber auch von Auswanderungsagenten, die das Leben in Übersee aus kommerziellen Interessen anpriesen.

Andere Liedtexte betonen demgegebenüber die negativen Aspekte der Auswanderung, indem sie – teils übersteigert – das Elend und die Gefahren der Überfahrt und die Enttäuschungen in der Fremde thematisieren. Solche negativen Darstellungen dienten manchmal der Propaganda derer, denen daran gelegen war, die Abwanderung einzudämmen oder zu verhindern. So schürt z. B. das Lied „Ein stolzes Schiff“, das dem Leser bereits aus Hinzes Sammlung „Lieder der Straße“ bekannt ist, Ängste gegenüber Amerika (S. 72): „Unter’m fremden, weiten Himmelbogen erwartet sie ein neues Schicksal dann: Elend, Armut und Kummer wiegt sie gar oft in Schlummer.“ Der neative Aspekt der Auswanderung beherrschte vor allem den Bänkelsang, der tatsächliche oder vermeintliche Gefahren der Fremde, Überfälle, Schiffbruch, materielle Not in der neuen Welt und den Tod in der Fremde an extremen Einzelbeispielen gern drastisch schilderte – darin vergleichbar den Sensationsmeldungen der heutigen Yellow Press.

Hinze intensiviert auch in diesem Band die Wirkung der Lieder, indem er sie durch weitere historische Dokumente ergänzt. Einen Einblick in die Schwierigkeiten der Auswanderung und die Strapazen der weiten Schiffsreise vermitteln Auszüge aus dem Bericht des Arztes und Schriftstellers Franz Ennemoser aus dem Jahr 1856, der von Mainz über Köln. Paris und Le Havre nach Nordamerika reiste. Er nennt die Gründe der Emigration und gibt Auswanderungswilligen für ihre Reisevorbereitungen praktische Ratschläge. Schonungslos schildert er die Strapazen und Risiken der Reise: die überfüllten Schiffe, auf denen sich ansteckende Krankheiten schnell verbreiteten, das Ausgeliefertsein auf hoher See und schließlich die ernüchternde Realität im zuvor gelobten Land. Ennemoser selbst kehrt nach dem Tod seiner Frau und eines seiner Kinder in den USA resigniert nach Deutschland zurück. Andere Emigranten erreichten nicht einmal ihr Ziel, ihnen wurde u. a. wegen Krankheit und Mittellosigkeit die Einreise verweigert und sie mussten nach Hause zurückkehren, wo man ihnen oft mit Schadenfreude und Spott begegnete.

Der lexikalische Teil dieses Bandes enthält – wie auch in den anderen Veröffentlichungen dieser Reihe – nicht nur aufschlussreiche Kommentare zu den einzelnen Liedern, sondern auch Stickwörter zu deren Kontext und ihrer Entstehungssituation sowie Begriffserläuterungen, die das Verständnis der Lieder fördern; außerdem weitere zur Thematik passende Lieder, Gedichte, historische Dokumente und zahlreiche Abbildungen. Aus allem fügt sich ein sehr anschauliches, vielseitiges und anregendes Bild vom Leben in vergangenen Zeiten zusammen. Manchmal wäre ein alphabetisches Register der Liedanfänge, das die Namen der Autoren nennt, bei der Lektüre hilfreich.
Dr. Gisela Probst-Effah

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