Lieder der Straße
Lobeshymnen Teil 2


Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs, Band 49/2004
Münster/New York/München/ Berlin 2005
321 S., br., 39,90 € ISBN 3-8309-1591-8
Hinze, Werner: Lieder der Straße. Liederbuch und Lexikon-Lesebuch. Hamburg: Tonsplitter, 2002 (Liederbuchreihe 1). 280 S., Abb., ISBN 3-936743-01-0.

In einem guten Vierteljahrhundert hat Werner Hinze für sein Hamburger Archiv »Tonsplitter« (Archiv für Musik und Sozialgeschichte) reichlich Material zusammengetragen. Aus diesem Fundus legt er nun sein erstes Liederbuch in einer zweibändigen Publikation mit großem dokumentarischen Charakter vor, bestehend aus einem Gebrauchsliederbuch mit Melodien und Gitarrengriffen und einem informativen Lexikon-Lesebuch, das umfangreiche Hintergrundinformationen zu den Liedern vermittelt.

Die Straße als »die zentrale Begegnungsstätte der Menschen« ist der rote Faden, der sich durch das bunte Potpourri der rund 200 thematisch geordneten Lieder zieht: Vor allem vom Leben der »Kunden« und »Tippelschicksen« (Wanderbettler und -bettlerinnen) ist die Rede, von leichten Mädchen und Räubern, von Handwerksburschen und Auswanderern, von Juden und Zigeunern, fahrenden Ärzten und Straßenmusikanten aller Couleur. Ebenso handeln sie von Gefängnis und Arbeitshaus sowie vom politischen Straßenkampf, aber auch »vom Rad und seinen Antriebsarten« (Droschken, Eisenbahn, Fahrrad, Motorrad, Auto). Dabei sind den Liedern unerlässliche Worterklärungen beigegeben, die die eigene Sprache der Vaganten entschlüsseln.

Ausgangspunkt der Publikation ist die dreibändige Lieder- und Gedichtsammlung Lieder aus dem Rinnstein, die 1903 und 1905 von dem Berliner Goldschmied Hans Ostwald veröffentlicht wurde. Ostwald, der selbst einige Jahre lang auf der Walze gewesen war, hatte seine kritisch kommentierten »Rinnsteinlieder« aus eigener Anschauung zusammengetragen. Mit seinen authentischen Veröffentlichungen über das Milieu der Unterschichten ist Ostwald leider noch viel zu wenig bekannt. (1900 veröffentlichte er seinen halb autobiografischen Landstreicherroman Vagabonden, 1904 initiierte er als Herausgeber die viel beachtete Schriftenreihe »Großstadt-Dokumente«, an der Autoren wie Magnus Hirschfeld beteiligt waren, 1905/06 erschien in sechs Bänden Das Berliner Dirnentum). Werner Hinze hat nun in aufwändiger Recherche die fehlenden Melodien zu den Texten Hans Ostwalds recherchiert und, wenn notwendig, den Liedtext leicht verändert, um ihn rhythmisch anzupassen. In den rekonstruierten Melodien liegt eine Stärke dieser Publikation, die viele der bislang wenig beachteten Lieder der untersten Schichten (wieder) bekannt und sangbar macht. Selbst Steinitz hatte nach eigener Aussage solche »Rinnsteinlieder« ausgeklammert, weil ihre Träger »zwar auch Opfer der Klassengesellschaft sind, aber nicht zum werktätigen Volk gehören«. Zugleich liegt hier aber auch eine Schwäche der Publikation: Hinze gibt zwar die Herkunft der jeweiligen Melodie im Lexikon-Liederbuch an, sofern sie zu einem anderen Text gesungen wurde und/oder ein Komponist bekannt ist, verzichtet aber zumeist auf die genaue Nennung seiner Quelle.

Es liegt nahe, dass es sich bei den Liedern der Straße vor allem um Parodien handelt, d.h. um Texte aus dem Alltagsleben der »Kunden« und »Tippelschicksen«, die zu populären Melodien gesungen wurden. Als Beispiel mag das Lied Als die Kunden frech geworden (S. 36f.) dienen, eine Parodie auf Als die Römer frech geworden. Dieses Lied über die Schlacht im Teutoburger Wald zwischen Quintilius Varus und Hermann dem Cherusker war ursprünglich ein Gedicht von Josef Victor von Scheffel (1847), welches 1875 von L. Teichgräber mit einer Melodie versehen worden war und im ausgehenden 19. Jahrhundert weit verbreitet war. Die »Kunden«-Version nun beschreibt die Erlebnisse so genannter »Orient-Kunden« in verschiedenen arabischen Ländern, einer mythenumwobenen Spezies, die sich trickreich ihr Überleben in orientalischen Ländern sicherte. Eindrucksvoll zu lesen sind dazu die Ausführungen und Zitate im Lexikon-Lesebuch.

Eine ebenso interessante Parodie bietet Hinze zu Leise zieht durch mein Gemüth, dessen Text von Heinrich Heine zu einer Melodie von Felix Mendelssohn Bartholdy viel gesungen wurde. In der Lebenswirklichkeit der Vaganten wurde daraus: »Bienen ziehen durch mein Hemd / gestern und auch heute« (S. 19), also die Läuse und das Ungeziefer, die bis »an das Haus, wo die Winden sprießen« (Arbeitshaus) ziehen sollten, um dort einen anderen »Kunden« zu grüßen. Der Inhalt des rauen Pennerlebens wird formal der lyrischen Melodie angepasst, wodurch ein eigentümlich wehmütiger Ausdruck entsteht, der nicht ohne (selbst-) ironischen Unterton ist.

Wenngleich die meisten Lieder der Sammlung aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammen und teilweise durch die Folkbewegung der 1970/80er-Jahre wieder belebt wurden - etwa die ironische Stellungnahme zur Ausstellung und Wallfahrt des »heiligen Rockes Christi« in Trier, 1844: »Freifrau von Droste-Vischering« (S. 152) -so gibt es in Hinzes Sammlung auch Lieder und Inhalte neueren Entstehungsdatums. Darunter ist die Nachkriegsparodie Wenn auf ‘m Schwarzmarkt die Hupe der Polizei erklingt von 1946 auf den berühmten Schlager der Capri-Fischer (S. 132f.), in welcher auf amüsante Weise die zu dieser Zeit weit verbreitete Schwarzmarktpraxis geschildert wird. Aus dem Jahr 1976 stammt die Hymne der Atomkraftbewegung Wehrt euch, leistet Widerstand I gegen das Atomkraftwerk im Land. I Schließt euch fest zusammen, die auf die Melodie des bekannten Kanons Heho, spann den Wagen an gesungen wurde (beide S. 161). In dem ausführlichen Kommentar im Lexikon-Lesebuch (S. I69f.) zitiert Hinze eine englische und zwei niederländische Fassungen (die älteste von 1573), die einen Zusammenhang mit dem Leben der Bettelleute nahe legen, gibt aber leider erneut seine Quellen nicht preis. Von größter Aktualität schließlich ist ein Lied des bekannten Kölner Straßenmusikers Klaus von Wrochem, der seit über 25 Jahren unter dem Namen »Klaus der Geiger« als bekanntester Vertreter der »Rotzfrechen Asphaltkultur« (RAK) bekannt ist: Drei Musikanten mit dem Kistenbass (S. 134f.), eine Parodie auf die Drei Chinesen mit dem Kontrabass, thematisiert die Terrorismushysterie nach dem 11. September 2001.

Jüngere Landstreicherballaden (Titel einer LP von Peter Roland), die bis in die 1960er-Jahre gesungen wurden, sind Kunstballaden und stammen etwa von Frank Wedekind {Großer Gott im Himmel, S. 18) und Kurt Tucholsky {Wir drei, wir geh’n jetzt auf die Walze, S. I4f.). Warum aber hat Hinze keine Lieder aufgenommen, die von heutigen »Pennern« gesungen werden? Wird in diesen Kreisen heute nicht mehr gesungen, oder hat der Autor auf die Aufnahme solcher aktuellen Lieder »aus dem Rinnstein« verzichtet, und wenn ja, warum? Dass es in Hinzes bunter Anthologie keine aktuellen »Rinnsteinlieder« gibt, verwundert insofern, als doch die Lieder der Straße gemeinsam mit dem Hamburger Straßenmagazin »Hinz & Kuntz« herausgegeben wurden. An dieser Stelle sei das sozialpolitische Engagement Hinzes gewürdigt: Jeweils ein Euro des Verkaufspreises der Lieder der Straße gehen an »Hinz & Kuntz«.

Ein großes Plus der Lieder der Straße ist das beigefügte Lexikon-Lesebuch, das in alphabetischer Ordnung vielfältige Informationen zu allen Liedern des Gebrauchsliederbuches beinhaltet — ein Verfahren, dass sich seit Jochen Wiegandts An der Eck steht ‘n Jung mit ‘nem Tüdelband (Hamburg 1993) bewährt hat. Hier wird mit zahlreichen Querverweisen der Entstehungs- und Rezeptionskontext der Lieder beleuchtet. Die Wörter der »Kundensprache« werden entschlüsselt, und zu verschiedenen Liedern sind ergänzend Textvarianten sowie informative Kurzbiografien zu Textern, Komponisten und Interpreten zusammengestellt. Ausführlich werden zudem relevante Begriffe erläutert, etwa das »Armen- und Arbeitshaus« und die »Kundenliebe«, aber auch weniger allgemein Bekanntes wie die »Janitscharenmusik«. Äußerst bereichernd sind hierbei die vielen umfangreichen wörtlichen Zitate aus verschiedenen Lebensbeschreibungen und Liedersammlungen, deren zeitlicher Bogen sich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Hans Ostwald bis zum Liedermacher Peter Roland spannt, der sich 1954 ebenfalls »auf Wanderschaft« begeben hatte. Hier wurde mancher Schatz ausgegraben, der auf Grund seiner eindrucksvollen Authentizität und Offenheit wenig Raum für Sozialromantik lässt. Ob der Vielzahl der verwendeten Quellen ist es entschuldbar, dass die eine oder andere nicht in der Überschau des umfangreichen Literaturverzeichnisses wieder begegnet.

Sowohl Liederbuch als auch Lexikon-Lesebuch sind durch schwarz-weiße Illustrationen bebildert, die in einem eigenen Abbildungsverzeichnis am Ende des Lexikon-Lesebuches nachgewiesen sind. Vor allem die zahlreichen älteren Fotografien lassen die Lebenswirklichkeit vergangener Straßenkultur, die in den Liedern zum Ausdruck gebracht und im Lexikon-Lesebuch erläutert ist, optisch eindrucksvoll erfahrbar werden. So ist man mit den Liedern der Straße selbst auf einer Wanderschaft durch »unterschiedliche Formen der eigenen oder einer fremden Kultur« (Hinze im Vorwort), die ansonsten zumeist ausgeklammert werden, und lässt sich dabei gerne von den vielen interessanten Informationen des Lexikon-Liederbuches begleiten.

Johanna Maria Ziemann, Freiburg i.Br.
Tonsplitter2.jpg


Der aktuelle
Katalog
Publikationen
Neuerscheinungen
Liederbücher
Das Taschenliederbuch 
Das kleine Liederbuch
Liedbiographien
Wissenschaftliche Reihe
Zeitdokumente
Vorschau
Sonstige
Publikationen
PK0101-4web.jpg
PK0202-4web.jpg

Fundstücke

               > Wir über uns     > Kontakt     > Bestellung     > Gäste     > Netzwerk   
















Home  
Aktuelles / Termine
Liederwerkstatt
Die Monarchen
Hamburger Volksliedarchiv
Tonsplitter Zeitschrift
Tonsplitter des Monats
Musik von unten
Antiquariat

Historische Dokumente
Folkrevival in Slowenien?
Slowenien nach dem Krieg

T o n s p l i t t e r
Reinh-4-6bx.bmp
Verlag, Volksliedarchiv,  musikalische und  wissenschaftliche  Darbietungen
Home  |  Liederbücher  |  Publikationen  |