„Lobhudeleien“
oder
„zur Sau gemacht“


Werner Hinze, Weißt du, wie viel Sternlein stehen oder O, du Deutschland ich muss marschieren
Liedbiographien Bd. 5



Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs, Band 49/2004
Münster/New York/München/ Berlin 2005

Schon der Titel des Heftes ist irreführend, als es um das groß annoncierte Kinderlied Weißt du, wie viel Sternkin stehen (Wilhelm Hey 1837) allenfalls am Rande geht. Im Zentrum steht vielmehr das soldatische Abschiedslied O du Deutschland, ich muß marschieren, nach dessen gängiger Melodie schließlich auch das bekannte »Sternlein«-Lied gesungen wurde. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden, ist O du Deutsch-land, ich muß marschieren ursprünglich eines jener Soldatenlieder, die den schmerzhaften Abschied von der Familie artikulieren. Jenseits aufgesetzter Kriegsbegeisterung wird hier eher eine Sehnsucht nach Friedenszeiten zum Ausdruck gebracht. Deshalb hat Wolfgang Steinitz das Lied auch als ein »gegen Söldnerdienst und Krieg« gerichtetes in seine Sammlung Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters (1955) aufgenommen. Steinitz war der erste Forscher, der darauf aufmerksam machte, dass zu diesem Lied verschiedene Melodien in der »Volksüberlieferung« vorkommen. Hier knüpft Hinze an und erweitert das von Steinitz vorgeschlagene Modell von drei Melodien auf sieben Melodiegruppen, denen abgestuft wiederum verschiedene Melodietypen zugeordnet werden. Die Basis dafür ist die reichhaltige Quellenlage zu diesem Lied im Deutschen Volksliedarchiv. Hinze wertet diese aus und macht dabei anschaulich, welche Variantenvielfalt dieser Liedtyp im melodischen Bereich wie auch auf der Ebene des Liedtextes hervorgebracht hat.

Dieses vielfältige Material zur Liedgeschichte wird vom Autor jedoch nur eingeschränkt genutzt. Hinze beschränkt sich weitgehend auf eine additive Beschreibung verschiedener Varianten und Motive. Ohne historische Tiefenschärfe und analytische Impulse werden dabei Bedeutung und Deutung dieses Liedes ebenso wenig herausgearbeitet wie die verschiedenen Phasen seiner Geschichte. Fragen zum sozialen Kontext spielen in dieser »Liedbiographie« kaum eine Rolle, etwa zu seinem offenkundigen Funktionswandel (vom Abschied des Soldaten hin zum Abschied des Brautpaares bei Hochzeitsfeiern). Überhaupt werden Aspekte der Rezeptionsgeschichte allenfalls punktuell angedeutet. Um das Lied mit Hinze »als aktives Antikriegslied einzustufen« (S. 17) müsste jedenfalls überzeugenderes Material vorgelegt werden. Auf der Basis vorliegender Darstellung bleiben solche Interpretationen reines Wunschdenken (und eine Aushöhlung des Begriffs des wirklich aktiven Antikriegsliedes).

Es handelt sich bei dieser Publikation letztlich eher um essayistische Impressionen als um eine wissenschaftlich solide Untersuchung zu diesem Lied. Zu offenkundig treten hier Mängel zu Tage, sei es in methodischer Hinsicht (Stilisierung von Einzelbelegen zu »Melodietypen«), im wissenschaftlichen Arbeiten (»Als F1 ist eine Arndtsche Variante einer Melodie zugeordnet, die mir bekannt erscheint, aber deren Ursprung mir nicht klar erinnerlich ist«, S. 14), bei musikbezogenen Fragen (man stößt auf die offenbar ernst gemeinte Behauptung, dass eine bestimmte »Melodie einen deutlich süddeutschen Klang hat«, S. 15), bei fachlichen Kenntnissen (der bekannte Volksliedforscher Ludwig Erk wird beständig als Friedrich Erk bezeichnet, S. 14, 17, 43), in formalen Dingen (es bleibt unklar, warum — entgegen der sonstigen Praxis — bei den »Melodietypen« F1 bis F5b die Notenbeispiele nicht abgedruckt wurden), wie auch in der Bewertung von Quellen: über die Sucher-Vertonung wird gesagt, sie befinde sich »nur in wenigen, speziellen Liederbüchern«, und dabei ignoriert, dass just diese eine enorme Breitenwirkung hatten — zumal das Allgemeine Deutsche Kommersbuch — und beständige Neuauflagen zeitigten. Welche Verbreitung die Silcherfassung im Bereich der Männerchor-Literatur hatte, wurde offenbar gar nicht erst geprüft - für den Autor steht ohnehin fest, dass diese Vertonung »gänzlich ungeeignet« sei. Aufs Ganze gesehen ist diese Broschüre eine vertane Chance. Sie hätte zeigen können, wie interessant liedmonografische Arbeiten sein können.

Eckhard John, Freiburg i.Br.



Tonsplitters Kommentar

Diese Kritik gehört eigentlich in die Rubrik „sagt mehr über den Kritiker als über das Objekt der Kritik“ doch wir können uns einen Kommentar nicht verkneifen. Er kommt in Kürze:
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