„Lobhudeleien“ oder „zur Sau gemacht“

Die Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51, 2006 über: Werner Hinze, Die Schalmei, erschienen 2003 im Klartext-Verlag

Eine detailreiche und umfangreiche Sozialstudie zur exemplarischen Musikkulturgeschichte der Weimarer Republik liefert Werner Hinze mit seiner Arbeit über die Schalmei als sowohl alltagskulturell oder soziokulturell sowie auch musikkulturell und sachkulturell betrachteter Gegenstand im Deutschland der 1920er Jahre. Es handelt sich dabei um den zweiten Teil seiner an der Universität Bremen erfolgreich abgeschlossenen Dissertation, deren erster Teil bereits unter dem Titel Schalmeienklänge im Fackelschein erschienen ist. Im hier rezensierten zweiten Teil der Dissertation setzt sich Werner Hinze mit der Kulturpolitik des so genannten Roten Frontkämpferbundes (RFB) und somit auch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) auseinander.

Laut Hinze stellt die Schalmei aus volkskundlicher Sicht ein „mythenumwobenes Instrument“ dar, das die politischen Entwicklungen vor allem in symbolhafter Gestalt als Instrument des Kampfes zur Zeit der Weimarer Republik begleitet hat. In seiner Studie liefert der Autor einen chronologischen Blick auf die Spielpraxis und das Musikrepertoire der Schalmei-Spieler des kommunistischen Roten Frontkämpferbundes. Das anhand detailreicher archivalischer Quellen zusammengetragene und in der Arbeit ausgewertete Material belegt, nicht zuletzt dank anschaulicher und detaillierter Tabellen und grafischer Darstellungen durch den Verfasser, in welch hohem Maße die Frontkämpferkultur das öffentliche Leben der Weimarer Republik bestimmte. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Kultur war die Übernahme der Tradition der kaiserlichen Armee, die sich in den meisten dieser paramilitärisch agierenden Verbände nachweisen lässt. Jedoch war diese nirgends so deutlich ausgeprägt vorhanden wie im kommunistisch oder sozialistisch orientierten und agierenden Roten Frontkämpferbund, dem RFB.

Eine wesentliche Erkenntnis ist zudem, dass die Mitglieder dieser Frontkämpferverbände häufig das politische Lager wechselten, was der bislang in der Wissenschaft verbreiteten Ansicht widerspricht, der Begriff „Arbeiterlied“ könnte allein und ausschließlich aus der üblichen links orientierten politischen Perspektive gedeutet werden. Werner Hinzes begriffliche Neubestimmung leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Lösung dieses wissenschaftlichen Ideologisierungsproblems.

Dabei zeigt sich, dass sowohl „linke“, also kommunistische, als auch „rechte“, also nationalsozialistische, Verzweigungen dieser Frontkämpferkultur ein erstaunliches Maß an gleicher militärischer Selbstverständlichkeit und Symbolik aufwiesen, die sich jedoch nicht allein im Sinne des Totalitarismus gleichsetzen lassen. Um der Bedeutung der damaligen Frontkämpferverbände, die sich aus vier bis fünf Millionen meist ehemaliger kaiserlicher Soldaten rekrutierten, gerecht zu werden, erweisen sich die neuen Begriffe „Frontkämpferlied“ und „Soldatenkampflied“ auch als brauchbar zur Analyse des Liedgebrauchs der anderen Verbände jener Epoche.

In einem ersten Kapitel setzt sich der Autor über 25 Seiten mit der Ausgangslage zu seinem Thema auseinander, wobei sofort deutlich wird, wie detailreich und vielschichtig die Quellenlage in diesem Zusammenhang ist. Es folgte ein ebenfalls 25-seitiger Abschnitt über die Chronologie des Arbeitsthemas, das der historischen Entwicklung und dem Funktionswandel des Instrumentes Schalmei gewidmet ist. Zudem liefert Werner Hinze zeitliche Einblicke in die politische Musikkultur des geteilten Deutschlands der Nachkriegszeit ab 1945.

Im dritten Kapitel beschäftigt sich der Autor mit der Instrumentalmusik innerhalb der Agitation des Roten Frontkämpferbundes, dessen hierarchisch organisierte Struktur er beleuchtet sowie dessen musikkulturelle Praxis erläutert. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die Schalmei als politisches Agitationsinstrument keinesfalls einem bestimmten politischen Lager zugeordnet werden konnte, sondern einer historisch gewachsenen Tradition aus der Kaiserzeit entstammte, die sich in beiden politischen Extremen widerspiegelte.

Als daran anschließende Kapitel folgen zwei Fallbeispiele zur instrumentalen Praxis des Schalmeispielens in Norddeutschland, die beide auf einer komplexen und detaillierten Auswertung archivalischer Quellen basieren. Die erste Fallstudie bezeiht sich auf das so genannte Gau Wasserkante (aus geographischer Sicht gleichbedeutend mit dem Großraum Hamburg), eine zweite auf den so genannten Gau Nordwest (in etwa der Großraum Bremen). In der darauf folgenden Analyse der musikalischen Agitation des Roten Frontkämpferbundes betrachtet Werner Hinze die Spielpraxis der RFB-Kapellen, die Elemente der Außenagitation sowie ihre musikalische Gestaltung anhand diverser musikkultureller Aspekte. Zu nennen sind hier die Begriffe „Empfang“ und „Abschied“, wie auch „Spieldramaturgie“ und „Erfolge“ oder „Platzkonzert“ und „Großveranstaltung“. Einer der interessantesten Aspekte stellt dabei die Agitation der Musikgruppen in „geschlossenen Räumen“ dar, wodurch Aspekte und Fragekomplexe aus der Musikalischen Volkskunde und der damit inhaltlich verbundenen volkskundlichen Brauchforschung Eingang in die exemplarischen Untersuchungen Werner Hinzes finden.

Im Kapitel über das Repertoire der RFB-Schalmeien-Kapellen im Spiegel seiner Vorgaben setzt sich der Autor nicht nur mit den Notationsquellen, sprich Liederbüchern, auseinander, sondern bezieht zudem die Aspekte der Rezeption und Publikation des musikalischen Materials, soweit dies an den archivalischen Quellen belegt werden kann, mit ein. In diesem Zusammenhang wird die interdisziplinäre Anlage seiner Dissertation deutlich. Denn mit der hier vorliegenden historisch und politisch perspektivischen Betrachtungs- und Deutungsweise zeigt Werner Hinze eine brauchbare Lösung zur Ideologisierungsfrage des Begriffes „Arbeiterlied“, völlig losgelöst von seiner politischen Orientierung auf die linksgerichteten politischen Lager auf. Interessante Aspekte der Musiksoziologie, der Musikpädagogik, der Politikwissenschaft, der Zeitgeschichte sowie der volkskundlichen Arbeiterkulturforschung runden das Fazit dieser überaus lesenswerten und spannenden Studie ab, die deutlich macht, wie überzeugend, umfangreich und differenziert Werner Hinze mit seiner Dissertation einen äußerst relevanten und gelungenen Beitrag auch in volkskundlicher Hinsicht, insbesondere für die Erforschung der Arbeiter- und Musikkultur leistet.

Dieser positive Gesamteindruck wird allenfalls durch das aus lesefreundlicher Sicht wenig gelungene Druckbild in punkto relativ klein gewählter Schriftgröße sowie einer Reihe störender orthographischer Fehler geschmälert, doch fallen diese Aspekte angesichts der in der Arbeit vorliegenden anschaulichen Tabellen und Abbildungen sowie des sehr lesefreundlichen und auch für den Laien nachvollziehbaren Textflusses kaum ins Gewicht. Somit bleibt Werner Hinze zu wünschen, dass er seine im Fazit zu seiner Dissertation geäußerten Gedanken und Ausblicke zu weiterführenden Forschungen und Publikationen zur Arbeiterkulturforschung auch zukünftig erfolgreich in die Tat umsetzen kann, da diese Studie geradezu eine inspirierende Animation für weitere hoffnungsvoll und mit Spannung zu erwartenden Veröffentlichungen ihres Autors darstellt, der Wissenschaft und Forschung nicht nur mit einem äußerst lobenswerten kritischen Sachverstand, sondern seine Arbeit auch mit dem Herzen betreibt.
Hamm / Heiko Fabig
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